V I O L O N C E L L O

Körperwahrnehmung in der Musik Phill Niblock’s und in großformatiger Farbmalerei
von Ulrike Brand
There is a tendency to look at large pictures from a distance. The large pictures in this exhibition are intended to be seen from a short distance. Barnett Newman, 1951


In Klängen schwimmen
Die Stücke des intermedialen Komponisten Phill Niblock sind hieratische Blöcke mit abruptem Beginn und unvermitteltem Ende, durchgehend hoher Lautstärke und deutlich umrissener Hüllkurve. Ihre über einen klar definierten Zeitraum hinweg aufrecht erhaltene Behauptung (statement) der ausgehaltenen Akkorde und Cluster durchdringen den Hörer mental und physisch.
Niblock’s Musik hat ebenso wie mit dem Gehör mit dem gesamten Körper zu tun. Der Körper nimmt die Klänge, ihre Frequenz und Amplitude als Ganzes auf, das reine Hören über das Ohr wird sekundär. In der Tat spricht Niblock selbst von „architektonischer Musik“. Es ist die erklärte Absicht des Komponisten, den Raum mit Klängen gleichsam anzufüllen „saturating the total space, engaging the air“ (Niblock 1982). Man scheint beim Hören in einer Substanz zu schwimmen, die den ganzen Körper in Schwingung versetzt. Diese Klangflüssigkeit verhält sich trotz ihrer monochromen Wirkung und dem konstanten Bezug auf einen Grundton nicht statisch. Ihr fortschreitender Sog entsteht durch minimale klangliche Veränderungen, die, so subtil sie auch sind, eine weit gefächerte Wirkung haben.
Tatsächlich konzentriert sich die eigentliche Gestaltung des Stücks auf den Innenraum des Klangs innerhalb der Hüllkurve. In der Schichtung einer hohen Anzahl von Stimmen (bis zu 51) erzeugen deren teils nahe beeinander liegende Frequenzen im Ohr Kombinationstöne und Untertöne. Die extrem tiefen Frequenzen der Untertöne liegen außerhalb des Hörbereichs, wahrnehmbar nur als dröhnendes Geräusch, den sogennannten drones. Da die subharmonischen Töne erst ab einer bestimmten Lautstärke hörbar sind, müssen Niblocks Stücke mit einer Lautstärke 90 bis 110 dB gespielt werden. Die Veränderung einer einzigen Stimme im mikrotonalen Bereich hat eine Veränderung der Schwebungen zu Folge, die sich verlangsamen, beschleunigen bzw. an- und abschwellen. Erreicht das Mikroglissando eine neue Tonhöhe, verändert sich der gesamte Bereich der Kombinationstöne, es entstehen neue Klangfarben, Gewichtsverhältnisse und Dichtegrade. Der gesamte Tonraum kann  dadurch eine Erweiterung erfahren, dass der Grundton eine Oktave nach oben oder unten transponiert wird, was allerdings nur indirekt zu spüren ist, da das harmonische Spektrum nicht verändert wird. Wird dagegen der höchste oder tiefste Ton durch ein Mikroglissando verschoben, nimmt man eine Nuancierung im Inneren des Klangs wahr, ohne sich der Verschiebung des gesamten Klangblocks bewusst zu werden.
Phill Niblock’s künstlerische Konzept verzichtet auf formale und rhythmische Strukturen, die der Großform untergeordnet werden. Rhythmische Pulsationen entstehen in Form der sogenannten „Schwebungen“ als Nebenprodukt der leichten Verschiebung der Tonhöhen, ausgelöst durch die Reibungen von Tonhöhenfrequenzen. Die spetifischen Klangfarben entstehen durch die Bevorzugung von samples mit Aufnahmen akustischer Instrumente, die mit ihrem charakteristischen Instrumentalklang und komplexen, obertonreichen bis geräuschhaften Klängen bei der Aufführung durch live-Zuspiel ergänzt und verstärkt werden können.
Durch die gesamtkörperliche Wahrnehmung etabliert sich ein physischer Raum, der - in ständiger klanglicher Fluktuation begriffen - die Aufmerksamkeit nicht nur aufrecht erhält sondern, durch kontinuierliche Abwandlung im Mikrobereich der Schwebungen und Frequenzen, mehr und mehr sensibilisiert, wodurch die Sogwirkung von Niblock’s Musik entsteht.


In das Bild eintreten

In der großformatigen Farbmalerei von Barnett Newman und den hier berücksichtigten Künstlern der folgenden Generation, wird eine einzige Farbe exponiert. Die großformatigen Leinwände oder andere flache Bildträger übersteigen oft die Körpergröße des Betrachters; ich stehe vor dem Bild wie vor einer Tür, durch die ich eintreten kann, oder wie vor einem Fenster, durch das ich in einen Raum schaue, der größer ist als der, in dem ich mich tatsächlich befinde, in den ich durch das Bild eintrete und worin mein Körper durch die Farbempfindung in einen anderen Aggregatzustand übergeht. Das große Format tritt mir entgegen und öffnet mir einen mentalen Raum, in den ich mich hineninbegeben kann. Durch die Wahrnehmung der Bildoberfläche begreife ich das Bild mit meinem gesamten Körper. Das reine Schauen wird dadurch, dass das Auge die gesamte farbige Fläche abtastet und als weit und groß im Verhältnis zur eigenen Körpergröße wahrnimmt, zu einer Sinneswahrnehmung, die sich bis in die Fußspitzen und Fingerspitzen fortsetzt und so von der visuellen sich in eine taktile Wahrnehmung verwandelt.
Voraussetzung für das Eintreten in das Bild ist das Sich-Einlassen in seine Farblichkeit. In der monochromen Malerei setzt der Künstler eine Grundfarbe, ein farbliches Statement, eine farbliche „Stimmung“, einen „Grundton“ oder „Grundakkord“, der dem Bildraum - und damit meinem mentalen visuellem Raum - eine bestimmte Temperatur verleiht, eine Atmosphäre, Nähe oder Weite, Helligkeitsgrad und Dichte, welche die emotionalen Bedingung für den mentalen Raum schaffen, der sich dadurch öffnet. Wenn ich dasAngebot, mich mit der Farbe zu synchronisieren, annehme, mich ihr gegenüber emphatisch verhalte, werde ich in das Bild eintreten, wenn nicht, bleibt die physische Distanz  zwischen meinem Körper und der Bildoberfläche bestehen. Dieser Prozess der Synchronisation vollzieht sich in der Zeit: während das Auge wieder und wieder die Bildoberfläche abtastet, findet ein Sensibilisierungsprozess statt. Mit der fortscheitenden Erweiterung der visuellen Informationen findet im mentalen Spiegel ein Durchdringen, Verstehen, Einstellen, Eintakten statt, das sich im Körper als taktile Wahrnehmung fortsetzt
Einem bestimmten Farbton entspricht dabei ein sinnlicher und emotionaler Grundton und Raum. Fortschreitend sensibilisiert sich das Auge für die farblichen Differenzen innerhalb des Bildes. Der monochrome Gesamteindruck löst sich auf zugunsten einer differenzierten Wahrnehmung farblicher und struktureller Nuancen in Farbauftrag und Textur, die bei jedem Künstler individuelle Ausprägung erfahren. Dieser Innenraum ist nicht statisch: die Grundfarbe oszilliert, bei einigen Künstlern überlagern sich zahlreiche Farbschichten und bilden eine Summe, die bei langem Betrachten sich je wieder auflöst in ihre Teile und neu zusammensetzt. Die Farbwahrnehmung ist dynamisch und instabil. Die zahlreichen Farbschichten zum Beispiel in den Bildern von Phil Sims, Ruth Ann Fredenthal oder David Simpson werden nur indirekt wahrgenommen. Tatsächlich überlagern sie sich, in der Wahrnehmung jedoch werden sie in subtilen Veränderungen der farblichen Oberfläche wirksam.
Manchmal gibt auch die Bildkante der über den Rahmen gespannten Leinwand Hinweise auf darunter verborgene Malschichten und veranlassen zur Suche nach deren Schattierung im gesamten Bildeindruck. Ich dringe tiefer ein in die Farbe, als ob ich ins Wasser schaute und meinen Blick fokussierte jeweils auf die Wasseroberfläche, die Fische, den Grund oder beim Blick durch durch ein Objektiv die Schärfe auf eine unterschiedliche Tiefe einstellte. Dadurch bleibt die Wahrnehmung in ständigen Fluss, unterschiedliche mentale und körperliche Bereiche werden sensibilisiert und die Wahrnehmung in der Zeit ausgedehnt. Die objektive Zeit weicht einer subjektiven Zeitlosigkeit.
Meine Augen tasten die Oberflächenstruktur des Bildes ab, als ob meine Fingerspitzen die Textur der Farbe berührten und die Bewegung des Pinsels, des Spachtels oder die ebenere Textur der gesprühten Farbe nachvollziehen würden. Das Bilderleben setzt sich über Augen und Hände im Körper fort, das Bild wird zu einer Landschaft, die ich durchstreife in einem weiten mentalen Raum, innerhalb dessen ich mit meinem ganzen Körper unterwegs bin und der synthetisch zu einer sinnlichen Landschaft wird. Die Zeit in der ich so unterwegs bin ist gleichzeitig objektiv in meinem Verharren vor dem Bild und subjektiv in meinem mentalen Spaziergang, der durch den sensorischen visuellen Reiz im Zeitverlauf das Zeitempfinden in einer Gesamtwahrnehmung von Zeit, Körper und Raum sublimiert.
Auditiver und visueller Raum
The room space is empty and chaotic, but the sense of space created by my paintings should make one feel, i hope, full and alive in a spatial dome of 180 degrees going in all four directions. (Barnett Newman)

Beide Medien bevorzugen die Großform, die Maler das große Format, Niblock die lange Dauer unterstützt durch gleichbleibend extrem hohe Lautstärke. An der Basis steht ein Konzept, das über das gesamte Wertk hinweg aufrecht erhalten wird. Bei Niblock der Grundton, bei den Malern die Grundfarbe bei vorwiegend monochromer Grundgestalt, bzw. minimaler Tonhöhenveränderungen in der Musik. Von einer formalen Struktur lässt sich in beiden Fällen nur begrenzt sprechen, ich würde lieber den Begriff der „Textur“ aus der Malerei entlehnen und auch auf die Musik anwenden: Richtung und Tempo, Gestik von Pinselführung und Farbauftrag auf der einen Seite, minimale Glissandi, Wechsel zu benachbarten Tonhöhen, Oktavtranspositionen, gleitende Veränderungen in der Anzahl der aktiven (hörbaren, zugespielten) Stimmen auf der anderen. Das eigentliche sensible Zentrum dieser Arbeiten ist ihre Binnenstruktur, die Sensibilisierung des Rezipienten findet in der Feineinstellung der Innenwelt des Werks statt.
Wo in der Malerei die Grundfarbe subtile Nuancen aufweist, in zu Dyptichen und Tryptichen benachbarter Farbtöne zugeordneten Bildern in minimalen Farbtonunterschieden korrespondiert (Ann Appleby), wo zahleiche Schichten übereinander aufgetragen werden (Phil Sims) und dadurch bei längerem Betrachten eine fluktuierende Gesamtwirkung erzielt wird, wo der Entscheidung für die Grundfarbe ein langer Prozess der farbfindung vorausgeht (Ulrich Wellmann), bedient sich Phill Niblock des Grundtons, um das Stück als Gesamtheit zu bestimmen und füllt den Klangraum mit Tonschichten, die früher am Synthesizer generiert wurden, in den jüngeren Arbeiten dagegen von akustischen Instrumenten eingespielt werden. Zwischen diesen Schichten entwickeln sich unterschiedliche Beziehungen: es entstehen Schwebungen, Kombinationstöne und Untertöne. Mikrotonale Glissandi bewirken unmerkliche Wechsel in Helligeit und Farbe. Kombinationstöne wechseln einander ab, Schwebungen ergeben unterschiedliche Muster, einen wechselnden Puls. Der Raum füllt sich mit Klängen, die auf der Aufnahme nicht präsent sind - so wie die verdeckten Farbschichten bei längerem Betrachten der Bilder plötzlich sichtbar werden.
So wie das großformatige, scheinbar monochrome Bild einen mentalen Raum öffnet, in dem Farben sichtbar werden, die durch andere Farbschichten verdeckt sind, schafft Niblock’s Musik einen „aural geographic space“ (Volker Sträbel), in dem der Hörer körperlich eingebunden ist. Bestimmet Frequenzen, wie extrem tiefe Bordune, die über das Ohr nicht wahrnehmbar sind, werden über den Körper wahrgenommen und erzeugen ein Gefühl des Schwimmens. In beiden Medien löst sich die objektive Zeit zugunsten eines subjektiven Zeiterlebens auf. Trotz des scheinbaren Stillstands werden die Sinne im minimalen Bereich ständig neu gereizt: das Auge streift - da es sich nicht an formalen Elementen festhalten kann - über die Bildfläche, die Mikroveränderungen innerhalb der Klangmasse lassen die Aufmerksamkeit nicht los, sie saugen den Hörer quasi in einen Klangfluss. Visuelle und auditive Reize lösen das intensive physische Erleben einer mentalen Räumlichkeit mit aufgehobenem Zeitempfinden aus, das als eine Art Gegenwelt die Faszination dieser Werke ausmacht.

Abbildungen:

1. Barnett Newman
2. Phil Sims
3. Ulrieh Wellmann
U L R I K E      B R A N D
B I O G R A F I E
F R E I E    I M P R O V I S A T I O N
A R C H I V
P O R T R Ä T F O T O S
K O N T A K T
I N T E R D I S Z I P L I N Ä R E     E R K U N D U N G E N
C O M P O S E R    P E R F O R M E R
Z E I T G E N Ö S S I S C H E    M U S I K
L E H R E
T E X T E